- ACCL
12th CLU: «Ne bis in idem» - Verbot der Doppelbestrafung
Aktualisiert: 11. Feb. 2020
Von der zunehmenden Verflechtung der verschiedenen Rechtsbereiche bleibt auch das Kartellrecht nicht unberührt. Vor bald zwanzig Jahren wurden die Sanktionsnormen ins Kartellgesetz eingeführt. Im Jahr 2012 hat das Bundesgericht entschieden, dass das kartellrechtliche Sanktionsverfahren strafrechtsähnlichen Charakter aufweist. Seither stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang strafrechtliche Verfahrensgrundsätze im Kartellverwaltungsverfahren angewendet werden müssen. Anlässlich des 12thCompetition Law Update (CLU) vom 31. Oktober 2019 in Zürich wurde das Thema «Ne bis in idem» – Verbot der Doppelbestrafung» mit Vertretern der Wettbewerbskommission und des Bundesstrafgerichts diskutiert. Der strafrechtliche Grundsatz «ne bis in idem» verbietet die erneute Verfolgung und Verurteilung einer bereits abgeurteilten Sache. Im Strafrecht ist dieser Grundsatz zentral. Doch wie sieht dies mit Blick auf das Kartellrecht aus?

Die Eröffnung und Leitung des 12thCLU erfolgte durch Prof. Patrick L. Krauskopf, Präsident der Swiss Association for Compliance and Competition Law und Leiter des Zentrums für Wettbewerbs- und Handelsrecht der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Was besagt der strafrechtliche Grundsatz «ne bis in idem»?
Sylvia Frei, Vizepräsidentin des Bundesstrafgerichts, hat in ihrem ersten Referat den Grundsatz «ne bis in idem» erklärt. Im Kern leitet sich «ne bis in idem» aus der Bundesverfassung, dem Strafrecht sowie aus dem übergeordneten Recht, Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK, ab. Sylvia Frei erklärt die Voraussetzungen des Grundsatzes «ne bis in idem» und hält fest, dass eine Verletzung von «ne bis in idem» vorliegt, wenn sowohl Tat- als auch Täteridentität vorliegen: Tatidentität liegt vor, wenn derselbe Lebenssachverhalt innerstaatlich in zwei voneinander unabhängigen Strafverfahren verfolgt wird. «Ne bis in idem» kennt keine transnationale Geltung, weshalb für eine staatenübergreifende Anwendung des Grundsatzes stets eine völkerrechtliche Vereinbarung notwendig ist, wie bspw. Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens. Täteridentität liegt vor, wenn sich ein zweites Verfahren gegen dieselbe beschuldigte Person richtet. Zudem kann eine Verletzung von «ne bis in idem» nur vorliegen, wenn es sich bei der Strafe um eine Strafe i.S.v. Art. 6 EMRK handelt. Dies hat zur Folge, dass die Verhängung einer Busse sowie einer verwaltungsrechtlichen Sanktion grundsätzlich möglich ist.

Welche Bedeutung hat «ne bis in idem» in der kartellrechtlichen Praxis?
Dr. Beat Zirlick, Leiter Recht des WEKO-Sekretariats, hält einleitend fest, dass es im Kartellrecht zum Grundsatz «ne bis in idem» kaum Praxis gibt, dass der Grundsatz aber immer wieder als Einwand von Anwälten vorgebracht wird. Zudem verfügt das Kartellgesetz über ein eigenes Sanktionssystem im Zusammenhang mit direkten Sanktionen sowie Wiederholungsfällen. Beat Zirlick ist der Auffassung, dass aufgrund des strafrechtsähnlichen Charakters der kartellrechtlichen Sanktionen «ne bis in idem» grundsätzlich auch im Kartellsanktionsverfahren anwendbar ist. Beat Zirlick hat ein paar interessante Fallgruppen gebildet, die er im Zusammenhang mit «ne bis in idem» erläutert.
Von praktischer Bedeutung sind insbesondere Wettbewerbsverstösse, die eine direkte Sanktion nach Art. 49a KG auslösen. Verstösst ein bereits verurteiltes Unternehmen zu einem späteren Zeitpunkt erneut gegen das Kartellgesetz, erfolgt eine erneute Sanktionierung entweder nach Art. 49a oder 50 KG. Eine Doppelbestrafung liegt in diesem Fall regelmässig nicht vor, da es sich beim zweiten Verstoss um eine neue Tat handelt und somit die Voraussetzung der Tatidentität nicht gegeben ist.
Das Kartellgesetz sieht parallele Straftatbestände für juristische und natürliche Personen vor. Verstösst eine juristische Person durch eine für sie handelnde natürliche Person gegen das Kartellrecht, ist aufgrund der fehlenden Täteridentität nicht von einer Verletzung des Grundsatzes «ne bis in idem» auszugehen. Anders könnte es sich bei einer Einzelunternehmung oder einer Einmann-AG verhalten.
Der Grundsatz «ne bis in idem» ist nicht verletzt, wenn zivilrechtliche Schadenersatzzahlungen und kartellrechtliche Sanktionen nebeneinander geltend gemacht bzw. verhängt werden. Nichtsdestotrotz bleibt der Grundsatz nicht gänzlich unangetastet: Eine kartellrechtliche Sanktion hat neben dem pönalen auch stets ein gewinnabschöpfendes Element. Wird Schadenersatz an die Opfer bezahlt, reduziert sich i.d.R. das Bedürfnis des Staates nach Abschöpfung der Kartellrente durch die Sanktion. Dem Geist von «ne bis in idem» wird so zumindest teilweise entsprochen.
Im Kartellrecht gilt – im Unterschied zum Strafrecht – bezüglich Sanktionsbemessung bei Tatmehrheit das Kumulationsprinzip: Bei Mehrfachverstössen gegen das Kartellgesetz werden die Bussen für jeden einzelnen Verstoss berechnet und addiert. Werden Kartellrechtsverstösse nach Schweizer Recht beurteilt, werden für die Sanktionsbemessung die Umsätze in der Schweiz herangezogen. Wird ein Verfahren wegen eines entsprechenden Verstosses im Ausland eingeleitet, wird dort bei der Sanktionsbemessung teilweise auf den weltweiten Umsatz abgestellt. Dies berücksichtigt die WEKO i.d.R. im Rahmen des Verhältnismässigkeitsprinzips und der Billigkeit. Ein Verstoss gegen «ne bis in idem» liege aber nicht vor.
Besonders im Beschaffungsrecht stellt sich die Frage nach der Doppelbestrafung durch eine kartellrechtliche Sanktion und eine beschaffungsrechtliche Massnahme, wie z.B. eine Vergabesperre. Wie man mit solchen Doppelmassnahmen umgehen soll, hängt davon ab, ob eine Vergabesperre eine Strafe im Sinne von Art. 6 EMRK darstellt und somit unter «ne bis in idem» fällt. Ob es sich bei der Sperre um eine solche Strafe handelt, ist nicht geklärt. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts i.S. FINMA-Berufsverbot spricht eher dagegen, zumal die Sperre nur inter partes verhängt werden kann.
Anwendbarkeit von strafrechtlichen Grundsätzen im Kartellrecht
Im zweiten Teil ihres Referats erläutert Sylvia Frei, Vizegerichtspräsidentin des Bundesstrafgerichts, die Analogien aus dem Bereich Strafrecht, die im Bereich Kartellrecht ebenfalls relevant sind. Sie betont, dass die Konsequenz des strafrechtsähnlichen Charakters der kartellrechtlichen Sanktionen die Anwendbarkeit von völker- und verfassungsrechtlichen Grundsätzen ist. Dazu gehört u.a. das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK. Der subjektive Tatbestand im Strafrecht ist von essentieller Bedeutung und muss grundsätzlich auch im Kartellrecht geprüft werden. Legt man die unterschiedlichen Strafrechts- und Kartellrechtsnormen aus, gelangt man zum Schluss, dass Art. 49a KG sowohl bei vorsätzlicher als auch bei fahrlässiger Begehung strafbar sein muss. Aufgrund dessen kann eine blosse Verletzung der Sorgfaltspflicht durch Mitarbeitende bzw. Organe zur Anwendung von Art. 49a KG führen. Ein faires Verfahren bedeutet, dass die beschuldigte Person durch ein unabhängiges und unparteiliches Gericht beurteilt wird. Im Kartellrecht fällt die WEKO als Verwaltungsbehörde die (strafrechtsähnliche) Sanktion aus. Da diese Sanktion anschliessend jedoch in einem Gerichtsverfahren durch zwei unabhängige Rechtsmittelinstanzen überprüft werden kann, wird das Recht auf gerichtliche Überprüfung nach Art. 6 EMRK eingehalten. Ebenfalls keine Verletzung von Art. 6 EMRK liegt vor, wenn die WEKO anzeigt, dass sie ein Verfahren gegen einen potenziellen Kartellanten einleitet und in diesem Zusammenhang um Auskünfte und Akteneinsicht ersucht, sofern sie keine spezifischen Folgen im Falle einer Mitwirkungsverweigerung androht. Sylvia Frei hält zudem fest, dass nach Ablauf der fünfjährigen Verjährungsfrist –welche ihres Erachtens klar eine Verwirkungsfrist darstelle –eine Sanktionierungsmöglichkeit nach Art. 49a KG entfallen.
Preisübergabe – ACCL Master Award
Anlässlich des 12thCLU wurde der ACCL Master Award vergeben. Aus allen Einsendungen hat die ACCL-Jury Roman Zeller als Gewinner ausgewählt. Seine Arbeit «Der Einsatz von IT-Systemen als aufeinander abgestimmte Verhaltensweise» überzeugte in vielerlei Hinsicht: Insbesondere mit der anspruchsvollen und technologischen Recherche. Der Laudator Dr. Fabio Babey, Stv. Leiter des Zentrums für Wettbewerbs- und Handelsrechts der ZHAW, rühmte die Innovation und das grosse Engagement, das Roman Zeller in seine Masterarbeit fliessen liess.

Panel-Diskussion
Im Anschluss an die Expertenvorträge wurde durch Patrick Krauskopf die Panel-Diskussion eröffnet und die Referenten stellten sich den kritischen Fragen. Festgestellt wurde, dass in der Lehre die Anwendbarkeit des Grundsatzes «ne bis in idem» fast unumstritten ist, während die höchstrichterliche Rechtsprechung die Anwendbarkeit strafrechtlicher Grundsätze oft erst aufgrund der übergeordneten Rechtsprechung des EGMR oder EuGH anerkennt. In Bezug auf die Parallelität von kartellrechtlichen und beschaffungsrechtlichen Sanktionen kam man zum Schluss, dass dies nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine politische Frage darstelle, die im Zuge der Revision des Beschaffungsrechts berücksichtigt werden sollte. Mit der Frage, inwiefern weitere strafrechtliche Aspekte, wie zum Beispiel die aufrichtige Reue, Auswirkungen auf Sanktionen des Kartellrechts haben, wird man sich auch in Zukunft beschäftigen.